Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute habe ich keine Unterrichtsidee dabei. Auch keinen Tipp zum Classroommanagement oder zur Elternarbeit. Und auch keine Bastel-, Ausflugs- oder sonstige Idee.
Heute habe ich einen Appell im Gepäck.
Wir waren alle schon in der Rolle des Schülers. Wir gingen zur Schule, haben studiert und waren im Referendariat. Wir kennen Prüfungssituationen und jeder hatte sicher ein Fach, in dem er nicht gut war. Oder vielleicht sogar richtig schlecht. Wir alle kennen auch das Gefühl, ein Brett vor dem Kopf, Angst vor einer Abfrage oder schlicht und ergreifend keine Ahnung zu haben. Also können wir uns bestens in unsere Schülerinnen und Schüler hineinversetzen. Oder?
Ich habe festgestellt, dass man schnell vergisst. Nicht, dass wir diese Situationen erlebt haben. Aber wie sie sich WIRKLICH anfühlen. Wann ich das festgestellt habe? Als ich mich erneut in diese Situationen begeben habe.
Beispiel: Aufbaustudium
Durch den Aufbau einer Tabletklasse an meiner Schule beschäftigte ich mich intensiv mit dem Thema Digitale Medien im Unterricht und wollte das Ganze auf ein theoretisches Fundament stellen. Also begann ich, neben meiner Arbeit als Klassenleiterin das Erweiterungsfach Medienpädagogik zu studieren. Neben einer Urkunde über das bestandene Examen brachte mir diese Zeit eine wertvolle Erkenntnis: Ich hatte verdrängt, wie es sich anfühlt im Seminar zu sitzen und keine Antwort auf die vermeintlich so einfache Frage des Dozenten zu wissen. Und plötzlich steckte ich in der Rolle meiner Schülerinnen und Schüler und versuchte möglichst unauffällig zu wirken, in der Hoffnung dieser Kelch möge an mir vorübergehen. Ich lernte für Prüfungen, war unsicher und nervös.
Beispiel: neue berufliche Herausforderungen
In der Schule kenne ich mich aus, ich weiß was ich tue und habe (meistens) einen Plan. Durch meine Erfahrungen in der Tabletklasse, das Medienpädagogikstudium und ein paar Zufälle, wurde ich plötzlich zu überregionalen Kongressen und Fortbildungsveranstaltungen als Referentin eingeladen. Ich freute mich über jede Einladung und genoss die Möglichkeit, ein Netzwerk aufzubauen und den Horizont zu erweitern. Aber ich hatte (vor allem bei den ersten Malen) die Hosen durchaus gestrichen voll. Und nicht nur einmal fragte ich mich, warum ich das mache. Neues, Unbekanntes verunsichert.
Beispiel: Neues Hobby
Relativ spontan begann ich mit einer Kollegin zu bouldern. Wir waren nicht besonders gut, aber es machte uns Spaß und wir belegten sogar einen Kurs. Und während wir in der Halle die erfahrenen Kletterer beobachteten, die scheinbar mühelos an den kleinsten Griffen tänzerisch die Wand erklommen, waren wir schon mit den Grundlagen voll ausgelastet. Elegant sah es auch nicht aus. Und an der Wand klebend packte uns die Erkenntnis: GENAU SO müssen sich unsere LRS Kinder fühlen, die an der Rechtschreibung verzweifeln, während der Rest der Klasse fröhlich am Aufsatz feilt.
Und deshalb hier mein Appell:
Verlasst ab und zu die Komfortzone. Probiert Neues aus, hört nicht auf zu lernen. Stellt euch fremden Situationen und Prüfungen. Man vergisst so schnell, wie sich Kinder in solchen Momenten fühlen. Diese Erfahrungen sind wertvoll, öffnen wieder die Augen und rücken den Blick gerade. Jedes Mal wieder!