Lange hatte ich über verschiedene Möglichkeiten nachgedacht, wie ich die sich häufenden Unterrichtsstörungen in den Griff bekommen könnte. Da bei einigen Kindern weder positive Anreize noch die Zusammenarbeit mit den Eltern Wirkung zeigte, musste ich nach anderen Wegen suchen.
Unerwartet bekam ich hierbei Unterstützung: Die Schule bekam Stunden für einen Lerncoach bewilligt. Frau H. sollte nun jede Woche eine Stunde in meiner (und natürlich in den anderen) Klassen verbringen.
Ein neues System mit Konsequenzen
Anfangs war die Skepsis bei einigen Kollegen groß: Wer würde da kommen und ihren Unterricht beurteilen? Die Sorgen einer „Verurteilung“ waren aber durchwegs unbegründet. In der ersten Stunde beobachtete Frau H. lediglich das Verhalten der Kinder und meine Reaktion darauf. Wie erwartet fielen auch ihr vier Schüler besonders ins Auge. Sie erkannte die Probleme sofort und stellte erste Vermutungen an, woran einzelne Verhaltensweisen liegen könnten. Ja, sie beurteilte auch mein Verhalten, aber keineswegs auf eine unangenehme Art. Zusammen arbeiteten wir an einem System, das mich schneller auf Unterrichtsstörungen reagieren lässt, da es in dieser Klasse nötig ist, jede Störung direkt zu unterbinden. In anderen Klassen mag es reichen, die Kinder ein oder zweimal zu ermahnen, in meiner jetzigen Klasse funktioniert das nicht. Einige Schüler müssen ihr Fehlverhalten direkt „sehen“ können. Das klingt sehr hart und hat mich auch Überwindung gekostet, jedoch hat sich diese Konsequenz letztendlich ausgezahlt.
Gelbe und rote Karten bei Unterrichtsstörungen
Damit ich nun schneller reagieren kann, bekommen die Kinder, wie beim Fußball, gelbe und rote Karten. Diese liegen griffbereit auf dem Pult und ich muss sie nur hochnehmen und in die Richtung des Schülers/der Schülerin halten, damit diese/r Bescheid weiß. Um den Überblick zu behalten, schreibe ich die Namen der verwarnten Kinder an die Tafel. So hat es schon mein Grundschullehrer gemacht und eigentlich kam mir diese Methode immer sehr antiquiert vor. Aber die Kinder fordern sie regelrecht ein. Zu Beginn (als die Methode noch nicht eingespielt war) habe ich mehr als einmal gehört: „Frau L., du musst mich noch an die Tafel schreiben.“ Bekommt ein Kind die gelb-rote Karte, ziehe ich einen Strich hinter den Namen, bei Rot folgt der zweite Strich und eine Auszeit.
Eine Auszeit zum Herunterkommen
Die Auszeit verbringen die Kinder im Nebenzimmer der Direktorin. Sie ist nicht als Strafe gedacht, sondern soll den Schülerinnen oder Schülern die Möglichkeit geben, sich zu beruhigen und „runterzufahren“. Daher ist auch keine Zeitspanne festgelegt, nach welcher die Kinder wieder zurück ins Klassenzimmer sollen. Jedes Kind entscheidet für sich, wann es sich wieder in der Lage fühlt, am Unterricht teilzunehmen, ohne zu stören. Zunächst hatte ich Bedenken, dass einige Kinder die Auszeit bewusst provozieren könnten, um nicht am Unterricht teilzunehmen. Die Sorge war jedoch absolut nicht berechtigt. Zwar verbringen die Kinder unterschiedlich lange außerhalb des Klassenzimmers, zurück wollen jedoch alle.
Zusätzliche Dienste für die Gemeinschaft
Da die Kinder, die eine rote Karte erhalten haben, mit ihrem Verhalten auch ihre Klassenkameraden gestört haben, einigten wir uns darauf, dass sie eine Woche lang einen kleinen zusätzlichen Dienst für die Gemeinschaft übernehmen. Sie stellen die Stühle hoch, heben liegengelassene Papierschnipsel auf oder sortieren liegengebliebene Hausschuhe an die richtigen Plätze.
In den letzten Wochen gab es jedoch fast niemanden mehr, der so einen Dienst verrichten musste. Umso mehr freut es mich dann, wenn meine Chaoten am Schluss freiwillig noch etwas Ordnung schaffen.