Der gleichnamige Song von Herbert Grönemeyer macht ein mutiges Statement. Aber wie sieht die Welt dieser kleinen Personen aus, denen Grönemeyer die Verantwortung übertragen möchte? Die Macht übergeben wäre vielleicht etwas zu viel, aber unterschätzen wir unsere Schüler nicht auch bisweilen? Was können wir ihnen zumuten?
Die Persönlichkeit
Ein Kind hat noch nicht den Erfahrungsschatz einer erwachsenen Person, logisch. Dies bedeutet auch, dass schon kleine Merkmale ein Kind in seiner Familie, Gruppe, Klasse oder Schule definieren können. So kann einem eine seltene Sammelkarte zu neuem Glanz verhelfen und den sozialen Status scheinbar erhöhen. Aber auch für uns belanglose Erkenntnisse formen die eigene Person, zumindest aus Kindersicht. So stellte ein Schüler mit besorgter Stimmlage fest: „Ich bin ganz anders als meine Familienmitglieder, ich bin der Einzige, der die Pommes von McDonalds lieber mag als die von Burger King.“ Stück für Stück formt sich die Persönlichkeit anhand kleinster Erkenntnisse, in nahezu allen Bereichen.
Humor
„Ja, alles klar, du bist der Einzige, der es richtig verstanden hat! Ihr solltet diese Aufgaben nicht machen und hattet gar keine Hausaufgaben auf, obwohl ich es zehnmal gesagt habe! Toll!“, entgegnete eine Lehrerin während eines meiner Praktika einem verdutzten Schüler. Dieser war aber ganz und gar nicht (angesichts dieses harten Rüffels) beschämt oder traurig, sondern erst verwirrt und danach überglücklich angesichts seiner scheinbar erbrachten Leistung. Natürlich, denn Ironie, Sarkasmus und Zynismus sind meist fehl am Platz in der Grundschule. Kinder können dies nach wissenschaftlichen Erkenntnissen nur sehr begrenzt verarbeiten.
Begrenzt heißt aber nicht, dass sie dies überhaupt nicht können. Oder habt ihr noch nie einen “Gegenteiltag“‘ erlebt? An diesem Tag kommen einem die Schüler schon am Schuleingang mit Aussagen wie ,,Diktate / Hausaufgaben (…) sind toll!“ entgegen. Wenn sie es auf die Spitze treiben, steht der eine oder andere Lehrer auch mal überfordert inmitten der anarchischen Meute. Kleiner Tipp: Die Schüler werden euch meist sehr schnell darauf hinweisen, dass Gegenteiltag sei, was im Sinne dieses Tages ja das Gegenteil bedeuten müsste. Es ist also KEIN Gegenteiltag! Weist darauf hin und gewinnt die Kontrolle zurück, viel Glück!
Liebe, Beziehungen und das komische Wort
Habt ihr auch schon einmal diese bedrohlichen, meist in Druckschrift gehaltenen Graffiti gesehen? Das Wort “Sex“ findet man in manchen Grundschultoiletten häufiger als auf St. Pauli, dabei findet dieser in der Grundschule (für gewöhnlich) nicht statt und die meisten Kinder wissen auch nicht, was es eigentlich ist. Dennoch beschäftigen sie sich mit diesem Thema. Interessant ist zum Beispiel, wie manche Schüler dieses wichtige Wort in ihre zukünftige Vita einbauen, einfach weil es dazugehört. So gibt es teils erschreckende Aussagen, die aber angesichts der Unwissenheit nicht zu sehr dramatisiert, sondern mit Humor genommen werden sollten. Wenn etwa ein Mädchen angibt, mit jedem ihrer fünf Verehrer aus der 2b schlafen zu wollen, heißt dies, auf Nachfrage, dass diese nur bei / neben ihr schlafen sollen. Und selbst dazu wird es wohl nicht kommen. Der komplette Kontext ist eben neu und so kommt es oftmals zu unterhaltsamen Annahmen und Verwechslungen („Männer nehmen eine Puppe, Frauen einen Rollator.“).
Beim Thema Sexualität haben die Schüler viele Fragen, die ihr zum Beispiel anonym über kleine Briefe stellen lassen könnt, um sie dann in unsicher kichernder Runde durchzusprechen. Am besten man überlässt die Schüler hierbei nicht sich selbst – beantwortet diese Fragen, bevor RTL 2 und sein Nachmittagsprogramm das tun!
Politik
Schauen wir uns in der Welt um, so erblicken wir viel Zerstörung, Bedrohung und Ängste. Mehr Kinder, als man denkt, schauen z. B. die Nachrichten zusammen mit ihren Eltern. Sollte ich mit meinen Schülern darüber sprechen? Oder ist es zu hart, etwa die derzeitige Weltlage anzusprechen? Wir haben manchmal keine Wahl, denn gerade diese Themen beschäftigen Kinder, sie sind emotionaler und weniger abgestumpft als wir. Daher sollten wir ihnen bei der Verarbeitung helfen.
An meiner Schule sind wir mit dem Thema “Flucht“ offen umgegangen, die meisten Ideen kamen von den Schülern selbst. Auf die Aussage hin: „Wir reden die ganze Zeit darüber, wann tun wir endlich etwas?“ entstand zum Beispiel ein Flohmarkt, dessen Einnahmen gespendet wurden. Vielleicht hat Grönemeyer recht, die Kinder berechnen nicht, was sie tun. Wahrscheinlich handeln sie dadurch auch schneller, während sich Erwachsene in Bürokratie und Verhandlungen verstricken. Aber ist das wirklich immer gut?
Kinder an die Macht?
Am folgenden Beispiel könnt ihr einmal sehen, was passieren kann, wenn Kinder nur unter sich, auf sich selbst gestellt sind und man sich als Lehrkraft komplett raus zieht: Nach unseren Kurzvorträgen in der dritten Klasse geben die Schüler einander Feedback und nehmen sich per Meldekette gegenseitig dran. Gern nutzen sie hierbei neues Vokabular und orientieren sich natürlich aneinander (Namen wurden geändert):
- Franziska: Habt ihr Verbesserungsvorschläge? Ja bitte, David!
- David: Ich war etwas irritiert von deinem Beispiel (…). Lisa!
- Lisa: Ich fand den Vortrag gut, aber ich war auch irren… irrentiert von dem Beispiel (…). Malte!
- Malte: Ja, hat mir auch gefallen. Aber das Beispiel hat mich auch inseriert, äh illustriert, äh intensi…. Nein, wie war das jetzt?
…to be continued…
So ist Sprache vermutlich einmal entstanden, aber ein meist funktionierendes System haben wir ja schon. Hier kommen wir also als Unterstützer und Regulierende ins Spiel, das ist unser Job. Unsere Schüler können viel, wissen schon viel und wollen noch viel mehr wissen. Wir sollten die Fragen der Kinder beantworten, denn Unklarheit ist kein guter Ratgeber und bei komplexen Themen sollten wir die Beantwortung nicht der kindlichen Fantasie überlassen. Die meisten übernehmen dazu gern Verantwortung, traut ihnen ruhig viel davon zu. Aber wir behalten die “Macht“ und setzen damit die Grenzen, auch zum Schutz.