In meinen letzten beiden Beiträgen über das "Flexible Sitzen" haben wir gemeinsam das Zimmer ausgeräumt, eine zentrale Mitte geschaffen, sowie mit den Kindern zusammen SchülerInnenbüros eingerichtet. Dass Unterricht unter diesen Bedingungen anders laufen kann – ja vielleicht sogar muss, wenn wir uns an den neuen pädagogischen Standards und dem Wissen über Lernen orientieren wollen-, ist nun eine logische Konsequenz. Den Raum als Lernort zu (er-)leben, gehört genauso dazu, wie das eigenständige Gestalten durch die Kinder.
Der Morgenkreis - ein schülergesteuertes Ritual
Ich starte am liebsten, indem ich den Tagesbeginn in die Hand der Kinder lege. Nach einem Signal versammelt sich die Klasse im Kreis (ich nehme entweder als Gast teil oder bereite mich noch vor) und ein Morgenkreis-Chef führt durch das Ritual. Begrüßung, Anwesenheitskontrolle (wir nehmen einander wahr!), Datum, Tagesablauf, anstehende Termine, ein Rätsel, Präsentation eines Mini-Buchtipps – all das ist Teil der ersten 10 bis 15 Tagesminuten. Auch ich bekomme das Wort erteilt und kann Neuigkeiten, wichtige Informationen oder aber auch mein eigenes Befinden kurz mitteilen. Die Kinder übernehmen hier selbst die Verantwortung, achten aufeinander, es kann auf individuelle Bedürfnisse eingegangen werden, Probleme vom Vortag können kurz thematisiert werden und vieles mehr. Ich investiere diese Zeit der Partizipation, des ganzheitlichen Lernens, sehr gerne!
Arbeitsphasen gestalten
Nach gemeinsamen Einführungen oder Wiederholungen im Sitzkreis entlasse ich die Kinder normalerweise in Arbeitsphasen. Diese sind entweder klar durch ihre Aufgaben vorgegeben oder orientieren sich an Wochenplan-Zeiten und die SchülerInnen arbeiten an unterschiedlichen Themen. Prinzipiell ist es mir für die allgemeine Entlastung wichtig, dass die Aufgaben schriftlich festgehalten sind, ob an der Tafel oder einem (individuellen) Arbeitsplan ist nebensächlich. Auch die Möglichkeit zur Selbstkontrolle lege ich vorher fest und ritualisierte Symbole und Orte im Klassenzimmer helfen, dass sich die Kinder orientieren können. Nach der Selbstkontrolle kommt jedes Kind zu mir und wir besprechen die Aufgaben kurz. Durch die räumliche und strukturierte Entlastung habe ich so die Zeit, mit jedem Kind ein sofortiges Feedback auszutauschen und ggf. zu reagieren, Hilfsmittel anzubieten, zu motivieren, Erklärungen zu geben oder anzuspornen.
Doch wie arbeiten die Kinder? Zu Beginn jeder Arbeitsphase stellen sie sich die immer gleichen Fragen:
- Wo kann ich mich gut konzentrieren und ordentlich arbeiten?
- Was hilft mir beim Lernen?
- Wer unterstützt mich beim Lernen?
- Wann muss mich meinen Platz verändern?
Danach entscheiden sie, mit wem, wo und meistens auch was sie nun genau bearbeiten. Als Hilfsmittel stehen ihnen diverse gestaltete Lernräume zur Verfügung: Ein Gruppentisch (am liebsten außerhalb des Klassenzimmers), eine ruhige Leseecke, ihr Lernbüro, der Boden, dafür Tablet-Ständer, um einen guten Untergrund zu haben, Decken, Isomatten (z.B. auch, um draußen zu arbeiten), Sitzkissen, Gymnastikbälle, Arbeitsplätzen im Stehen oder Knien und noch einiges mehr. Eine gute Inspirationsquelle für flexibles Sitzen finde ich übrigens die Lehrerin und Bloggerin „frau f aus w“ – ihren Instagram-Account kann ich sehr empfehlen, da sie eine realistische und sinnvolle Umsetzung des „Flexible Seatings“ zeigt.
Das Finden des eigenen Lernortes geht zügig, ich zähle immer von 10 rückwärts und am Ende beginnt die Arbeitsphase. Sollten zu viele Kinder an den gleichen Ort wollen, klären sie es meistens untereinander, bei größeren Problemen unterstütze ich sie bei der Lösungsfindung.
Reflexion als Zaubermittel für den Lernprozess
Anfangs sind solche flexiblen Phasen sehr kurz und eng geführt, doch mit der Zeit ist es möglich, die Kinder immer selbstständiger in ihr Lernen zu entlassen. Dazu gehört allerdings eine intensive und regelmäßige Reflexion. Am besten direkt am Ende der Phase, manchmal ist das nur ein kurzer „Daumen-Check“, manchmal äußern sich 2-3 Kinder zu ihrem heutigen Lernen. Immer freitags gibt es ein großes Reflexionsgespräch, bei dem wir uns die oben vorgestellten Fragen ansehen und jedes Kind sich Gedanken zu seinen aktuellen Erfahrungen macht.
Gibt es Kinder, die mich beim Lernen echt voranbringen? Gibt es Freunde, die ich lieber in der Pause zum Spielen um mich habe? Welche Umstände müssen wir verbessern? Gibt es offene Probleme?
Innerhalb dieser Gesprächskreise sind schon gemeinsam mit den Kindern tolle Ideen entstanden, nach denen wir im Zimmer wieder etwas umgestellt oder die Arbeitsphasen verlängert haben. Natürlich gibt es auch immer wieder Kinder, die man enger begleiten muss in diesem Prozess. Gerne mache ich mit ihnen dann zwei oder drei Lernort-Möglichkeiten aus, die sie zunächst einmal ausprobieren und üben, bevor wir es mehr öffnen. Manchmal muss es auch regulatorische Eingriffe meinerseits geben und ich trenne Kinder bewusst. Meistens ist aber nach kurzer Zeit keine Vorgabe mehr durch mich nötig, da innerhalb der Reflexion ein Bewusstsein für das entsteht, was ihnen gut tut beim Lernen. So fühlen sich die SchülerInnen gesehen und ernst genommen in ihren Bedürfnissen und Wünschen.
Zu sehen, wie sie sich immer mehr ihres eigenen Lernens bewusst werden, Erfolge feiern, weil sie selbstbestimmt etwas verändert haben, Lernpartnerschaften entstehen, ohne dass ich Kinder zueinander zwinge und sie sich trauen, verantwortlich für ihr Arbeiten zu sein – das sind für mich unendlich wertvolle Momente!