Seit einigen Jahren arbeite ich an einer Schule, in der ein Großteil der Kinder am Wochenende eher wenig erlebt. Deshalb war der Erzählkreis am Montagmorgen häufig eine recht kurze Angelegenheit. Es war also schnell klar, dass dieses Ritual nach dem Wochenende für meine Schüler:innen nicht sehr gut geeignet ist, um die mündlichen Ausdrucksfähigkeiten und die Zuhörkompetenzen zu schulen. Ich habe mich deshalb dazu entschlossen, den Erzählkreis für die Kinder etwas umzustrukturieren. Und so ist die Idee zur „Erzählzeit“ als ein festes, tägliches Ritual entstanden.
„Erzählzeit“ – Zeit, die sich in vielerlei Hinsicht lohnt zu investieren
Für mich haben feste Rituale, bei denen die Kinder regelmäßig zu Wort kommen und über ihre Erlebnisse oder Erfahrungen berichten, eine sehr wichtige Funktion: Zum einen bekomme ich als Lehrerin einen Einblick, wie die Kinder ihre Freizeit verbringen und wo sie möglicherweise Interessensgebiete haben, die wir auch im Unterricht aufgreifen können. Ebenso inspirieren sich die Schüler:innen gegenseitig zu Freizeitbeschäftigungen, was gerade bei unserem Einzugsgebiet sehr wichtig ist.
Nicht zu vergessen ist aber auch, dass Erzählzeiten ein sehr gutes Mittel zur Beziehungspflege und zur Stärkung der Klassengemeinschaft sind: Es gibt eine feste Zeit, in der die Kinder über sich erzählen dürfen, was ihnen gerade wichtig ist. Sie werden in ihren Interessen ernst genommen und kommen mit ihren Mitschüler:innen ins Gespräch, wenn diese Nachfragen stellen. Von Vorteil ist außerdem: Die Kinder stehen während ihrer „Erzählzeit“ im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Somit ist es auch gerade für Schulanfänger:innen eine gute Vorübung für Referate, in der das laute und verständliche Sprechen vor der Klasse geübt wird.
Die „Erzählzeit“ in meiner Klasse
Immer freitags verteilen wir die Namensklammern der Kinder auf die einzelnen Tage der kommenden Woche. Das heißt, die Kinder wissen schon im Voraus an welchem Tag sie mit dem Erzählen dran sind und können ihren kleinen Vortrag dann auch ein bisschen planen. Das ist besonders wichtig, wenn die Kinder einen Gegenstand mitbringen und zeigen wollen. Denn um gerade auch diejenigen Schüler:innen zum Erzählen zu animieren, die in ihrer Freizeit wenig unternehmen, haben wir die Erzählzeit um die „Zeigerunde“ erweitert. Die Kinder dürfen also selbst entscheiden, ob sie von Erlebnissen berichten oder einen Gegenstand mitbringen und erzählen, welche Geschichte dahinter steckt (also z.B. von wem und seit wann sie diesen haben, was man damit macht, warum er ihnen besonders gut gefällt usw.).
Die „Erzählzeit“ in den Schulalltag integrieren
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, das Ritual in den Tagesablauf aufzunehmen. Da täglich nur wenige Kinder mit ihrer „Erzählzeit“ dran sind, nimmt es auch nur ca. 10 Minuten in Anspruch. Ich habe das Ritual als festen Bestandteil in meinen Anfangskreis am Morgen integriert, in dem wir über den Tag sprechen und wichtige Dinge klären. Der Sitzkreis hat dabei den Vorteil, dass Blickkontakt beim Sprechen gut möglich ist und Gegenstände in die Mitte gelegt werden können, sodass sie für alle gut sichtbar sind.
In der Pandemiezeit, als teilweise nur Frontalunterricht erlaubt war, durften die Kinder während der Essenspause von ihren Erlebnissen berichten oder ihren Gegenstand vorstellen. Zur Präsentation haben wir hier die Dokumentenkamera benutzt. Aber auch als ein gemeinsames Tagesabschlussritual ist die „Erzählzeit“ denkbar.