Einzelförderung und Gerechtigkeit – verträgt sich das?

Geht es bei einer Klassenarbeit gerecht zu? Das fragte ich mich neulich, als ich mit einer dritten Klasse einen Lesetest schrieb.

Schon bei der Vorbereitung dachte ich darüber nach, welches Kind evtl. mit der vorgegebenen Zeit nicht auskommen würde oder wem die Aufgaben zu leicht sein könnten. Einem Kind, das schneller fertig ist als die Mitschüler, Zusatzaufgaben zu geben, damit keine Unruhe aufkommt, ist kein Problem. Wie sieht es aber dagegen mit Kindern aus, die mehr Zeit brauchen?

iStockphoto.com / Ridofranz
(Foto: iStockphoto.com / Ridofranz)

Wenn einzelne Kinder Unterstützung brauchen

Mir fiel Karla ein. Karla ist ein Mädchen, das Aufgaben zwar versteht, aber für alle überdurchschnittlich lange braucht. Ihre Gewissenhaftigkeit und Sorgfalt stehen ihr dabei ebenso im Wege wie ihre mangelnde Konzentrationsfähigkeit. Schnell wird sie von einem Geräusch oder einer Handlung im Klassenzimmer abgelenkt.

Individualisierung bei Klassenarbeiten

Am Beginn des Tests schlage ich Karla vor, sich in einen separaten Raum zu setzen, wo sie zumindest ihre Ruhe hätte und ungestört arbeiten könnte. Karla lehnt ab. Nun ist es von einem achtjährigen Mädchen auch viel verlangt, das Anderssein nicht als Außenseiterrolle zu empfinden.

Karla sitzt also wie alle anderen Kinder im Klassenraum und beginnt mit dem Lesen. Auch wenn die Aufgaben für alle gleich sind und jedes Kind still lesen soll, lässt sich ein leises Murmeln nicht vermeiden. Karla stört das in der Konzentration. Die Stunde ist vergangen und Karla hat etwa 50 % der Aufgaben bearbeitet. Da ich zu Beginn allen Schülerinnen und Schülern gesagt habe, auch in der Pause weiterarbeiten zu können, falls nötig, haben alle Kinder dieselben Bedingungen.

Karla ist das einzige Kind, das in der Pause im Klassenraum bleibt. Die anderen werden in der Stunde fertig.

Nach etwa 10 Minuten ist Karla auch mit allen Aufgaben fertig. Sichtlich erleichtert, dass sie in Ruhe arbeiten konnte, gibt sie mir ihre Arbeit ab. Ich sehe auf den ersten Blick, dass sie eine Aufgabe falsch verstanden hat und zeige ohne zu zögern auf die Aufgabenstellung. Karla liest mir die Aufgabe vor und erkennt sofort ihren Fehler. Sie konnte die Arbeit noch einmal mitnehmen und die Aufgabe erneut bearbeiten, diesmal richtig.

Ist fördern gerecht?

Es dauert weitere 5 Minuten und Karla ist fertig. Sie hätte unter Zeitdruck eine sehr viel weniger gute Klassenarbeit geschafft. Diese Einzelförderung hat dem Kind gut getan, sie hat nach Aussage der Mutter ihren Mut und ihre Motivation nicht verloren. Ich würde jedes Mal wieder so handeln – aber ist es den anderen Kindern gegenüber gerecht?

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