In diesem Schuljahr habe ich eine erste Klasse bekommen und freue mich, den Schülerinnen und Schülern u. a. das Lesen und Schreiben beibringen zu dürfen. Doch bereits mit den Einschulungsunterlagen stieß ich auf interessante Informationen: Zwei meiner 20 ABC-Schützen können schon lesen. Nun ja, lesen können ist ja relativ, dachte ich. Ich nahm die Info zur Kenntnis und wartete auf die Schulpraxis.

Bereits in der ersten Schulwoche zeigten diese zwei Schüler, was in ihnen steckte. Sie konnten in der Tat lesen und das teilweise sogar besser als „die großen Viertklässler“. Damit hatte ich beim Lesen der Kurzinfo wirklich nicht gerechnet. Flüssiges Lesen in angemessenem Tempo und dann auch noch mit ansprechender Betonung. Wo gibt´s denn sowas? Mir blieb die Spucke weg und meine Gedanken ratterten in Richtung Differenzierung… Wie soll ich damit im Unterricht umgehen?

Glücklicherweise sind diese Schüler sehr geduldig und bereit, all die anderen Dinge mit Freude zu lernen, die die Grundschulzeit so mit sich bringt. Die Beobachtungen der ersten Wochen offenbarten nämlich auch Schwächen in anderen Bereichen. Eben dort liegen die Lernaufgaben dieser besonderen Schüler. Lesen können ist nämlich nicht gleichzusetzen mit Schreiben können – selbst wenn die Buchstaben alle encodiert und durch das visuelle Gedächtnis niedergeschrieben werden können.

Lesen lernen durch intrinsische Motivation

Ich atmete auf, denn so kann ich den beiden Leseprofis doch noch etwas Neues auf ihrem Lernweg mitgeben. Den Eltern ging es übrigens auch so. Auch sie waren anfangs besorgt und fürchteten, ihre Kinder könnten sich unterfordert fühlen und sich langweilen. Ein Elternpaar hatte sogar ein schlechtes Gewissen, dass sich ihr Kind mehr oder weniger autodidaktisch mit etwa 4,5 Jahren das Lesen aneignete. „Hätten wir ihn bremsen sollen, wo er doch so großes Interesse hatte?“

Natürlich nicht! Wenn die intrinsische Motivation groß ist, lernt der Mensch am besten. Wenn es nun mal Interesse an Buchstaben hat und wie die Eltern in der Zeitung lesen möchte oder sein Wissen um Tiere, Flugzeuge und andere Themen erweitert möchte, spricht nichts dagegen.

Doch zu Schulbeginn fiel es mir ehrlich schwer, diese Gelassenheit für meinen Unterricht zu nutzen. Rückblickend betrachtet, ist das mit der Integration von Leseprofis aber gar nicht so aufregend, wie ich anfangs dachte.

iStockphoto.com / dolgachov
(Foto: iStockphoto.com / dolgachov)

Diagnostik auf allen Ebenen

Eine umfangreiche Diagnostik der ABC-Schützen ist grundlegend für jeden Unterricht. Zu Beginn des Schuljahres habe ich mich dafür auf fein- und grobmotorische Fähigkeiten gestützt. Bekanntlicherweise sind solche Fähigkeiten für den Schriftspracherwerb entscheidend. Im Bereich der Hand-Auge-Koordination oder aber Fingerfertigkeit zeigten die lesestarken Schüler deutliche Schwächen gegenüber denjenigen, die noch nicht lesen können. Das Lesen stellt damit nur einen Teil für die Basis zum Erwerb der Schriftsprache dar, es bleibt also noch genügend Arbeit …

Leseleistungen in allen Unterrichtsbereichen wertschätzen

Da ich schnell gemerkt habe, dass diese Kinder ihr Können auch unter Beweis stellen wollen, habe ich meine Symbole zur Unterrichtstransparenz variiert. Nun prangen nicht nur Bildsymbole an der Tafel, sondern ab und zu auch kurze schriftliche Anteile. Diese lasse ich von den beiden Leseprofis vorlesen. In den letzten beiden Wochen haben sich auch zwei Schülerinnen gemeldet und konnten einzelne Wörter an der Tafel lesen. Insofern habe ich nun bei Arbeitsblättern Differenzierungsaufgaben eingebunden, die Schrift enthalten – nicht nur für die Leseprofis, sondern für alle Leseinteressierten.

Differenzierung beim Buchstabenerwerb

Der Erwerb der Buchstaben unterscheidet sich bei den Leseprofis nicht wirklich von dem Weg, den die Mitschülerinnen und Mitschüler gehen. Auch wenn meine Leseprofis gut lesen können, fällt ihnen die auditive Zuordnung des Lautes in Wörtern nicht immer leicht. Auch beim Schreiben muss ich immer wieder auf die Einhaltung der Schreibrichtung achten. Da sie die Buchstaben schon kennen, schreiben sie sie aus dem Gedächtnis aus und achten weniger auf die zu lernende Schreibrichtung.

Um ihnen jedoch Wertschätzung für ihr Lesevermögen entgegenzubringen, gibt es für sie ansprechende Sonderaufgaben zum Buchstaben der Woche. Ihre Arbeitsmöglichkeiten werden um Schriftbilder erweitert. Während die übrige Lerngruppe entsprechende Wörter mit dem Buchstaben der Woche als Bilder erarbeitet, können die Leseprofis das gleiche Arbeitsblatt in Schriftsprache erarbeiten. Sie benötigen kein Bild vom Uhu, um das Wort zu erarbeiten. Umgekehrt wurde es gerade bei diesem Wort sehr interessant. Während die Klasse das Bild des Waldbewohners vor sich hatte und das Wort mithilfe eines Schreibufos erarbeitete, arbeiteten die beiden Leseprofis umgekehrt und konnten ein Bild zum Wort finden. Die beiden gezeichneten Werke unterscheiden sich stark: Während ein Schüler den Waldbewohner andeutete, zeichnete der andere Schüler einen gelben Klebestift.

Alle Ergebnisse wurden in der Klasse verglichen und jeder leistete damit einen wichtigen Beitrag zum Gesamtzusammenhang von Schriftbild und Abbildung.

Möglichkeiten durch Freiarbeit

Im Rahmen der Freiarbeit gibt es beim Buchstabenerwerb auch eine „Wortfabrik“. Hier dürfen die Kinder aus Zeitungen, Zeitschriften und Prospekten Wörter ausschneiden und neu zusammensetzen. Das macht den Leseprofis viel Spaß, denn so erfinden sie auch Quatschwörter mit dem Buchstaben der Woche. Hier spielen sie ihr Wissen auf eine gewinnbringende Weise aus und bringen damit auch die Klasse zum Lachen.

Wenn es sich ergibt, nehme ich mir Zeit, um mit ihnen Grammatik zu erforschen. Bei Fragen zur Artikelweitergabe, die selbstverständlich zu diesem Zeitpunkt nur intuitiv erfolgen kann, kommen die Köpfe schon zum Qualmen. Sie merken, dass es auch immer wieder spannende Aspekte zum Lernen und Diskutieren gibt. Auch Lesedosen habe ich nun für die Freiarbeit bereitgestellt.
In wenigen Wochen wird das Lesematerial anwachsen, denn dann beginnen auch alle anderen mit der Lesearbeit. Dafür gibt es Lese-Mal-Blätter und unterschiedliche Lesetexte in mehreren Niveaus.
Und während die Klasse nach und nach immer mehr Leseexperten hervorbringt, arbeiten die jetzigen Leseprofis weiter an ihren eigenen Lernaufgaben: Sie verbessern die Schreibmotorik, beschäftigen sich mit den Themen „Freunde finden“, sich anpassen oder im kooperativen Miteinander.

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